Man schreibt das Jahr 1919. Es ist das Jahr der Ernüchterung, das Jahr des Versailler Vertrages, der endgültigen Verdeutlichung der Niederlage der kaiserlichen Ambitionen und damit des Kaiserreichs. Ein weiteres Jahr der Armut und des Hungers. Es ist aber auch ein Jahr des Aufbruchs und des Neuanfangs – zumindest in Frankfurt.
Kaiser idell Tischleuchte
1919 ist das Jahr, in dem das Frauenwahlrecht in Deutschland eingeführt wird, was stellvertretend für die neue Zeit stehen wird. In jeglicher Hinsicht werden alte Zöpfe abgeschnitten. Das gilt nicht nur für neue, offen getragene Damenfrisuren, sondern auch für die Entwicklung eines neuen Menschenbildes. Freiheit und Selbstbestimmung, Ästhetik und Moral gegenüber Zucht und Ordnung, Gehorsamkeit und soziale Ausgrenzungen in der Kaiserzeit waren die neuen Leitgedanken.
Walter Gropius gründet im selben Jahr in Weimar das „Staatliche Bauhaus“ als Kunstschule. In Frankfurt entsteht im Laufe der kommenden Jahre die „Moderne am Main“.
Das neue Denken beginnt in Frankfurt
Nach geistiger Vorarbeit in den Nachkriegsjahren prägte Frankfurts Oberbürgermeister Ludwig Landmann im Jahr 1924 den Begriff „Das Neue Frankfurt“. Das Neue Frankfurt war mehr als moderner Städtebau, es war ein gesellschaftspolitisches Konzept. Es hielt Einzug in das neue Denken: das betraf die neue Technik (in Frankfurt besonders Radio und Telefon), die neue Mode, die neue Musik, das neue Produkt-, Industrie- und Kommunikationsdesign – und vor allem lockte es in der Zeit von 1925 bis 1933 viele visionäre Köpfe an den Main. Die Zeitschrift „Das Neue Frankfurt“ erschien ab Herbst 1926 auf Initiative Ernst Mays, der auch anfänglich Herausgeber und Chefredakteur war. Als Mitherausgeber kam 1928 der Gründungsdirektor der Frankfurter Kunstschule Fritz Wichert hinzu, was die enge Zusammenarbeit zwischen der Kunstschule und dem Hochbauamt zeigt. Die Zeitschrift wurde anfänglich von den Geschwistern Leistikow gestaltet. Unter den Nationalsozialisten musste sie 1933 eingestellt werden.
Frühjahrsmesse 1927
Grotesk-Schriften werden Mode
Überflüssige Schnörkel und Ornamentik wurden zurückgedrängt, viele Dinge des täglichen Gebrauchs wurden auf das notwendige Minimum reduziert. Der Typograf Paul Renner entwarf 1925 die Schrift Futura, eine serifenlose Schrift. Sie gehört zur Gattung der „Grotesk-Schriften“, die auf die „Füßchen“ verzichtet. Man wollte auf alles Überflüssige verzichten, um die Lesbarkeit zu erhöhen. Es ging nicht um ein verführerisches Schrift-Bild, sondern um eine objektive Information mit Hilfe von deutlicher Schrift. Die bis dahin üblichen Schriften waren Serifenschriften wie die bekannte „Garamond“, die nach wie vor eingesetzt werden und weiterhin ihre Daseinsberechtigung haben. Die Bezeichnung Grotesk-Schrift kommt daher, dass man diese Schriften anfänglich als grotesk ansah. Diese Typen haben sich aber bis heute durchgesetzt und werden aufgrund ihrer einheitlichen Strichstärke und ihrer Lese- und Darstellungsfreundlichkeit oft für Bildschirmdarstellungen benutzt. Renner setzte diese Schrift aber nicht nur für Werbeplakate ein, sondern auch für Briefpapier.
Der Grafiker Hans Leistikow kreierte den neuen Stadtwappen-Adler im Sinne der neuen schnörkellosen Zeit. Ein damals für etliche Gesellschaftsgruppen ungehöriges „Rupfen“ des Stadtadlers, was ab 1933 wieder rückgängig gemacht wurde.
Adler Standard 8
Linderung der Wohnungsnot
1925 wird Architekt und Stadtrat Ernst May Leiter des Siedlungsamtes und Martin Elsaesser künstlerischer Leiter des Hochbauamtes: Ziel ihrer Arbeit ist, innerhalb von zehn Jahren die Wohnungsnot Frankfurts mittels sozialem Wohnungsbau zu lindern. Die hygienischen Verhältnisse in den kleinen, zu feuchten und dunklen Wohnungen sind katastrophal.
Ernst-May-Haus Gartenansicht
Es brauchte Wohnungen, die bezahlbar, modern und menschenwürdig waren und in kürzester Zeit erstellt werden konnten. Deshalb entwickelten schon vor hundert Jahren kluge Köpfe die Modul-Bauweise. Das ist ein Baukastenprinzip – auch unter dem Begriff „Frankfurter Normen“ bekannt –, das die Vereinheitlichung der Bauten, der Gebäudeausrüstung und nicht zuletzt der Inneneinrichtung forderte. Dadurch konnte erstens in großen Massen und zweitens vorgefertigt werden, was zu erheblichen Zeit- und Kostenersparnissen führte. Es hatte aber auch einen sozialen Hintergedanken: Es sollte bezahlbarer Wohnraum für alle geschaffen werden. Ein mittlerweile wieder sehr aktuelles Anliegen, wie auf den folgenden Seiten zu lesen ist.
Heimatsiedlung in Sachsenhausen-Nord
12.000 Wohnungen in fünf Jahren
In den Jahren 1925 bis 1930 wurden in rund 20 Siedlungen zirka 12.000 Wohnungen erstellt, vornehmlich in den Stadtteilen Bornheim, Praunheim und Niederrad. Bauherren waren öffentliche Wohnungsbaugesellschaften, in deren Eigentum sich noch heute die meisten Siedlungen befinden. Der Großteil der Siedlungen bietet auch heute bezahlbaren Wohnraum, einige Siedlungen stehen unter Denkmalschutz. Hier kam auch das Baukastenprinzip bis in das kleinste Detail zur Anwendung. So erfand die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky (1897 – 2000) die funktional perfekt durchdachte „Frankfurter Küche“. Es war eine zirka acht Quadratmeter große Einbauküche für die moderne Frau, die zeitsparend in der Küche arbeiten konnte. Die Küche war mit moderner Technik ausgestattet, platzsparend wie das Beispiel des hochklappbaren Bügelbrettes zeigt und getrennt von den Wohnräumen, damit Feuchtigkeits- und Geruchsdämpfe in der Küche blieben. Alles hatte seinen vorbestimmten Platz, jeder Quadratzentimeter wurde perfekt genutzt. Eingebaut wurden diese Küchen unter anderem in der Siedlung „Römerstadt“, die auch die erste vollelektrifizierte Siedlung Frankfurts und mit Elektroherden sowie Zentralheizung ausgestattet war. Die Wohnungsgröße betrug zirka 90 Quadratmeter. Damit eine Familie genügend Raum fand, wurde auch die Innenausstattung normiert: Der österreichische Architekt und Möbeldesigner Franz Schuster ist der Erfinder der einfachen, leicht aufbaubaren, billigen und stapelbaren Möbel, die auf jegliche Ornamentik, Größe und Individualität verzichteten – gewissermaßen der Vater des „Ikea-Prinzips“.
Selbst die Gärten der Häuser wurden einheitlich oder ergänzend bepflanzt. Nutzpflanzen sorgten für eine teilautarke Ernährung, die Früchte der unterschiedlichen Obstbäume konnten mit den Nachbarn gegen dessen andere Sorte getauscht werden. Das alles ist heute noch im restaurierten Ernst-May-Haus, Im Burgfeld 136, in der Römerstadt zu besichtigen. Neben den bautechnischen Neuerungen gab es aber auch die soziokulturelle. Vor dem Hintergrund, dass bis zu dieser Zeit viele unerträgliche Mietskasernen in den Innenstädten entstanden, wollte man nun frische Luft und Licht für die Arbeiterschaft und damit die Volksgesundheit fördern. Dazu gehörte auch die Trennung von Arbeitsstelle und Wohnort. Die Siedlungen wurden mit der dazu notwendigen Infrastruktur und Schulen ausgestattet. Ein Ansatz, der sich im Laufe der Zeit wieder gewandelt hat. Heute steht eher Wohnen und Arbeiten an einem Ort im Vordergrund.
Höchste Zeit für Sanierungen
Die Siedlungen stehen größtenteils unter Denkmalschutz, manche Häuser verfallen oder wurden nicht-denkmalgerecht umgebaut und verändert. Die Stadt hat einen Antrag über 14 Millionen Euro Fördergeld beim Bund gestellt, um eine denkmalgerechte Sanierung unterstützen zu können. Im April wurden fünf Millionen Euro Bundesmittel zugesagt. Gestartet wird mit den großen zusammenhängenden Siedlungen, die sich im Eigentum der ABG Frankfurt Holding oder der Nassauischen Heimstätte befinden. Im nächsten Schritt sollen dann weitere Genossenschaften und die Privat-Eigentümer der einzelnen Häuser finanziell und beratend unterstützt werden. Schon heute gibt es dafür im Neuen Forum Veranstaltungen und Beratungsgespräche.
Neues-Frankfurt Logo
Forum Neues Frankfurt
Das Forum Neues Frankfurt wurde 2018 gegründet und vernetzt drei Frankfurter Museen: das Deutsche Architekturmuseum, das Museum Angewandte Kunst und das Historische Museum Frankfurt. Die Geschäftsstelle in der Hadrianstraße 5 wird von der Ernst-May-Gesellschaft geführt und von der Stadt Frankfurt gefördert. Die Geschäftsstelle wird nicht nur das vielfältige Veranstaltungsprogramm bündeln und die Kooperationspartner vernetzen, sondern auch der Öffentlichkeit als Ansprechpartner zu allen Fragen rund um das Neue Frankfurt zur Verfügung stehen. Den Bewohnern der Siedlungen des Neuen Frankfurt bietet es darüber hinaus eine direkte Anlaufstelle und Diskussionsplattform zu aktuellen Themen und Fragestellungen.“ Das und weiterführende Informationen sind zu finden unter der eigens eingerichteten Website des Forum Neues Frankfurt: www.forum-neues-frankfurt.de. Ein weiterer Unterstützer ist die Martin-Elsaesser-Stiftung. Sie bietet ein umfangreiches Begleitprogramm rund um das Neue Frankfurt an.
Zum Ausgang der 1920er-Jahre war Frankfurt als ein dem Bauhaus gleichwertiges, weltbekanntes Zentrum der Avantgarde etabliert. Wenn in jenen Jahren des epochalen Wandels das Bauhaus die Akademie der Moderne gewesen ist, dann war das Neue Frankfurt die Baustelle. Drei Frankfurter Museen richten 2019 anlässlich des Bauhausjubiläums Sonderausstellungen zum legendären Großstadtprojekt aus. Die Ausstellungen werden von der Kulturstiftung des Bundes im Rahmen von Bauhaus 100, dem Land Hessen und der Stadt Frankfurt gefördert.

Die Ausstellungen in den drei Museen:
Museum Angewandte Kunst
„Moderne am Main 1919 – 1933“: von 19. Januar bis 14. April 2019.
Infos unter www.museumangewandtekunst.de (bereits beendet)
Deutsches Architekturmuseum
„Neuer Mensch, neue Wohnung – Die Bauten des Neuen Frankfurt 1925 – 1933“:
von 23. März bis 18. August 2019.
Infos unter www.dam-online.de
Historisches Museum Frankfurt
Dauerausstellungen „Frankfurt Einst?“ und „Frankfurt Jetzt!“.
Infos unter www.historisches-museum-frankfurt.de